Galerie
Eine Hausorgel im Münstertal (Graubünden)
Alfred Reichling
Dieser Artikel erschien in: Die Hausorgel, Heft 8/1997, S.44f.
In einem der schönen Häuser des kleinen Dorfes Tschierv im Münstertal (Val Müstair) mit den für jene Gegend charakteristischen farbig gemalten Fenster-Umrahmungen und Sinnsprüchen in romanischer Sprache steht eine dreiregistrige Hausorgel, die der Hausherr selbst erbaut hat. Jon Bott (geb. 1937) war von Herkunft ursprünglich Landwirt. Er gab diesen Beruf jedoch mit 30 Jahren auf. Seine große Liebe hatte von jeher der Tischlerei gegolten, der er sich nun autodidaktisch verschrieb. Heute besitzt er eine wohleingerichtete Werkstatt, die nicht nur über moderne Maschinen, sondern auch über viel altes Arbeitsgerät verfügt und in der auch eine Drehbank nicht fehlt. Die Beschäftigung mit der Restaurierung von Möbelstücken schärfte den Blick für alte Handwerkskunst, die immer auch, wie selbstverständlich, von einem natürlichen Schönheitssinn geprägt war. Jon Bott spielte lange Jahre in der örtlichen Musikkapelle Tenorhorn und Bariton; er blies auch Alphorn und baute selbst Alphörner.
Ende der 80er Jahre führte die örtliche Theatergruppe ein Stück auf, in dem eine Drehorgel benötigt wurde. Das Instrument, das man hierzu auslieh, war defekt. Jon Bott zerlegte es und vermochte es tatsächlich zu reparieren. Dieses gelungene Experiment verschaffte einen ersten Einblick in das Zusammenwirken von Balgmechanismus, Windlade mit Ventilen und Pfeifenwerk. Reparaturen von Harmoniums brachten weitere nützliche Erkenntnisse. Schließlich fertigte Jon Bott einige Holzpfeifen, die er einem Orgelbauer zeigte. Dieser ermunterte ihn fortzufahren. Es folgte ein akustischer Signalgeber für den Hausflur mit vier Pfeifen, die zuerst nacheinander und dann zusammen einen Dreiklang angeben. Bald war die Zeit reif, sich an ein größeres Instrument zu wagen. Die Entstehungsgeschichte dieses Erstlingswerks verlief folgendermaßen:
Jon Bott nahm mit einigen Orgelbauern Verbindung auf und besuchte ihre Werkstätten. An Literatur lernte er nach und nach kennen: Hans Klotz, Das Buch von der Orgel; Karl Bormann, Heimorgelbau und Orgel- und Spieluhrenbau; Mark Wicks, Organ Building for Amateurs; Dom Bédos, Die Kunst des Orgelbauers. Als Experimentiermodell fertigte er sich eine Holzpfeife mit verschiebbarem Vorschlag und verstellbarer Aufschnitthöhe.
Im Jahre 1989 begann Jon Bott mit dem Bau eines Registers Gedackt 8' (Gedackt = romanisch: Cuernà), das offen aufgestellt spielbar gemacht werden sollte. Deshalb wurden die Pfeifenfronten besonders schön ausgeführt; die gedrechselten Spundgriffe sollten zugleich optische Akzente setzen, und selbst die Füße erhielten Zierrillen. Die Mensur hatte er von einem Orgelbauer erhalten.
Gleichzeitig entstand eine Anlage für die Windversorgung: Zwei Schöpfer zum Treten, darüber ein Magazin mit zwei einwärtsgehenden Falten, das mit zwei Feldsteinen beschwert ist.
Bevor Jon Bott mit dem Bau der Windlade (aus Fichtenholz) begann, stellte er fest, daß die Gebläseanlage für mehr als nur ein Register ausreichend war. So reifte der Plan zum Bau eines dreiregistrigen Positivs.
Das ganze Instrument kam nach und nach zustande, ohne daß je eine einzige Zeichnung gefertigt worden wäre. Die Windladenmaße ergaben sich empirisch; denn die Kanzellenteilung folgt der Klaviaturteilung. Die einarmigen Tasten (Untertastenbeläge aus Birnbaum, Obertastenbeläge aus Ebenholz) ziehen die Ventile direkt auf, so daß die Traktur an Einfachheit nicht zu überbieten ist. Selbstverständlich reichte die Windladenbreite nicht aus, um alle Pfeifen unterzubringen. Jon Bott bestimmte anhand des Platzbedarfs von Cuernà 8' die nötige Breite der Peifenstöcke (Arvenholz), wobei er, wie wir dies von historischen Positiven her kennen, die kleineren Pfeifen platzsparend in einer zweiten Reihe unterbrachte (Principal 2' ab cis²; Flöte 4' ab d° abwechselnd in zwei Reihen, Pfeife Dis liegt - nach oben sprechend - waagrecht zwischen 2' und 4'; Cuernà 8' ab d² in zweiter Reihe). Die tiefen zwölf Pfeifen (C, D - c°) von Cuernà 8' wurden über Kondukten nach unten abgeführt; sie sprechen nach hinten. Die Versorgung der einzelnen Pfeifen mit Wind geschieht über komplizierte Verführungen in den Pfeifenstöcken, die aus insgesamt sieben Schichten bestehen, was der Frische der Ansprache keinen Abbruch tut. Die Schleifen aus Eichenholz werden durch gedrechselte, seitlich zu verschiebende Registerhebel betätigt.
Die Mensur des hölzernen Principal 2' ergab sich durch Umrechnung der Maße eines geschenkten Metallregisters. Abgesehen von dem benötigten Leder und den Ventilfedern, die bei einem Orgelbauer gekauft wurden, und der Flöte 4' ab d° (von einem Orgelbauer geschenkte Pfeifen), hat Jon Bott alles selbst gefertigt. Er denkt daran, die Metallpfeifen von Flöte 4' gelegentlich durch Holzpfeifen in Eigenfertigung zu ersetzen.
Die Form des aus Arvenholz (Zirbelkiefer) gefertigten Gehäuses ergab sich aus der inneren Anlage quasi von selbst: ein auskragendes Obergehäuse über einem schmäleren Unterbau. Sechs selbstgefertigte Holzschrauben, die sich leicht lösen lassen (und zudem einen Ziereffekt haben), fixieren die Fassade des Oberbaus und die vordere Abdeckung des Unterbaus, so daß das Innere von vorn her leicht zugänglich ist. Der freie Raum über den Prospektpfeifen ist durch ein ornamentales Schleierbrett aus Nußholz (dreilagig verleimt und dadurch sehr stabil) ausgefüllt.
Im Jahre 1993 war das Positiv (Klaviaturumfang: C, D - c³. Winddruck: 55 mm WS) fertiggestellt. Seine Disposition lautet:
1. Principal | 2' | Holz, offen (Fronten Birne, sonst Fichte; Vorschläge Nuß; Stimmbleche). C - c² im Prospekt (einschl. blinder Pfeife Cis). |
2. Flöte | 4' | C, D - cis° Holz, gedeckt (Fronten Eiche, sonst Fichte, Vorschläge Nuß, Spundgriffe Ahorn); ab d° Metall (d° - c² Rohrflöte; cis² - c³ konisch). |
3. Cuernà | 8' | Holz, gedeckt (C - c° Fichte, Vorschläge und Oberlabien Eiche; cis° - h° Fichte, Fronten mit Oberlabien Eiche, Vorschläge Nuß; ab c¹ Eiche, Fronten und Oberlabien Nuß, Vorschläge Birnbaum; Spundgriffe Nuß bzw. Ahorn + Nuß). |
Über dem Prospekt steht zwischen den Namens-Initialen des Erbauers (J B) folgende Inschrift:
QUIST ORGEL FAT CUN MES AJEN MAUN
DESS FAR PLASCHAIR A MINCH 'UMAUN
[Diese mit meinen eigenen Händen gefertigte Orgel
soll jedem Menschen Freude bereiten.]